sechstens – 50% Nimmer
Ich taumle gegen den breiten Rücken
direkt vor mir und schrecke scheinbar aus meinen Gedanken hoch oder ich habe es
wirklich fertig gebracht im Laufen einzudösen. Keine Reaktion, kein Knurren,
auch wenn ich fast damit gerechnet hätte. Der Indianer, dessen Rücken wirklich
ziemlich viel Wärme abgibt, sieht mich lediglich kurz an und schon allein bei
dem Blick würde ich mich gerne Verkriechen.
Er öffnet den Mund: „Wohnst du bei
jemandem?“, hakt er nach und langsam kann ich die ersten Lichter durch die
Bäume erkennen. Verwirrt sehe ich mich um. Er hat Kleidung an, normale,
Kleidung und wir sind wieder im Auto. Ich blinzle, schiebe auf die Müdigkeit
und wieder verschwimmt meine Sicht. Da ist er wieder, wir mitten im Dschungel,
ich kann es riechen, deutlich, Torf, Schweiß, die Feuchtigkeit legt sich auf
meine Haut und wieder taumle ich gegen ihn, als er etwas zu hart den meinen
Fesseln zieht.
Wir laufen schon ewig, meine Füße
tun entsetzlich weh und ich werde von Sekunde zu Sekunde nervöser. Aber mein
Kopf scheint nicht funktionieren zu wollen, nicht so wie er sollte. Ich schiebe
es darauf, dass mein Körper mit der Nüchternheit nicht klar kommt. Und wo sind
überhaupt der Gnom und die Fee?
Mein Kopf zuckt nach oben, gerade
als er einfach zur Seite kippen will.
Wir passieren ein paar Häuser, die
verstreut im Land stehen und schließlich setzt er den Blinker. Diese ganze
Szenerie erscheint mir falsch. „Nein“, antworte ich offen: „Ich will einfach
nur weiter, danke dass du mich mitgenommen hast.“ Mitgenommen? Er hat doch… er…
was… ?Wieder ist es kurz still, für meinen Geschmack biegen wir etwas zu weit
nach rechts ab, aber noch ist der Berg da vor mir und scheint zu warten.
„Du solltest heute Nacht nicht mehr
weiter. Es ist hier ziemlich gefährlich und dann der Schnee…“, wirft er ein,
wirkt dabei aber so unbeteiligt, als würde er sich lediglich darüber Gedanken
machen, was für eine seichte Fernsehsendung ihn wohl nachher erwartet. Ich weiß
nicht so recht, was ich erwidern soll und sage dann nur: „Ich weiß, ich will
nur schnellstmöglich weiter.“
Ein Ruck, ich werde nach vorne
gezogen, verliere das Gleichtgewicht endgültig und knalle auf den Boden. Obwohl
er weich und morastig ist tut der Aufprall weh, sehr sogar. Bevor ich wirklich
zu Luft komme werde ich auch schon wieder hoch gezogen. Er packt mich einfach
unter der Achsel und stellt mich aufrecht hin, wobei ich ordentlich mit den
Füßen nachhelfe, da das schon ziemlich weh tut. Bisher hat er kein Wort gesagt,
oder doch oder… . Mein Atem geht schnell, ich weiß nicht mehr wo oben oder
unten ist. Der Dschungel, wir sind im Dschungel, wir waren die ganze Zeit im
Dschungel. Aber… aber… .
„Das kannst du auch noch morgen,
Mann.“ Ich reiße die Augen noch etwas weiter auf, obwohl sie mir nicht
zugefallen sind. Es ist viel eigenartiger, als würde einfach, als würde… .
Seine Stimme kenne ich, aber er hat doch noch gar nicht mit mir gesprochen. Es
war doch eben noch viel wärmer und… . „Ich muss wirklich…“, beginne ich
automatisch und bin mehr als verwirrt. Ich weiß nicht einmal genau worauf ich
antworte und realisiere erleichtert, als ein altes und renovierungsbedürftiges
Holzschild das uns mitteilt, dass wir eine Kleinstadt erreicht haben. Es ist
von Graffiti bedeckt und ausgeblichen, sodass ich nicht einmal den Namen lesen
kann, das Holzschild darunter ist besser gepflegt und weist auf die Indianer
hin. Nett. Nicht eine Kleinstadt, ich weiß, dass wir zu dieser Stadt fahren.
Ich weiß… wo ich bin, ich weiß es.
Trommeln, nach einer gefühlten Ewigkeit
kann ich Trommeln hören. Die Panik nimmt mir komplett die Luft zum Atmen,
während ich mich fühle, als würde ich auf meine eigene Hinrichtung gehen. Die
Fesseln schneiden mir unbarmherzig ins Fleisch und doch scheine ich das
vibrieren des Autos noch unter mir spüren zu können. Ich schüttle den Kopf, ein
paar Blätter schlagen mir ins Gesicht und ich bin kurz davor einfach
loszuheulen. Bei allem was mir heilig ist, ich werde verrückt. Auto, ich habe
noch nie ein Auto gesehen nur in den Geschichten meines Vaters davon gehört.
Von der Welt unten, in der es so manche Wunder gibt, aber keine richtigen und
vor allem haben die Leute vergessen wie man glaubt. Was ist nur los mit mir?
„Du hast keine Kohle, stimmt’s“,
stellt er fest und ich starre ruckartig gerade aus, zittere am ganzen Leib und
bemerke, dass ich die Hände so fest geballt habe, dass sich meine Fingernägel
ins Fleisch drücken. Wieso spricht er mit mir? Er sieht genau gleich aus, aber
doch irgendwie anders… er… ich wüsste nicht einmal was ich sagen soll. „Wenn es
das ist, du kannst bei meinem Onkel schlafen. Er hat einen Hof und wenn du beim
Kochen und Abwasch hilfst und alles so hinterlässt, wie du es aufgefunden hast,
ist das kein Problem. Du kannst da heute Nacht nicht raus, du erfrierst“, und damit
scheint für ihn das letzte Wort gesprochen, da ich mich auch nicht wehre
sondern völlig überfordert bin. Diese Träume, sie scheinen mittlerweile immer
echter zu werden.
Er biegt von der winzigen
Hauptstraße ab, nach rechts und die Häuser werden immer weniger, bis wir uns erneut auf einer schmalen und dieses Mal
kurvigen Landstraße befinden. Erneut ein Schild mit dem Hinweis auf die
Nachkommen der Indianer, welche genau, keine Ahnung. Und neben dem Gefühl, dass
ich wieder zu weit von meinem Weg abkomme, den es ja als solchen gar nicht
gibt, ist da auch tatsächlich genau in diesem Moment so etwas wie Angst. Er
nimmt mich gerade mitten in die Pampa mit, weder weiß ich seinen Namen noch
sonst etwas und wenn das so ein paar Psychopathen sind… .
Ich schlucke hart, der Weg wird
immer schmaler, ist mittlerweile nicht einmal mehr asphaltiert und dann tauchen
die ersten Lichter eines wirklich großen Hofs auf. Er ist alt, aber wirkt nicht
heruntergekommen und strahlt mit der Tür, welche geöffnet wird, als Indianer
flinke Socke den Motor ausschaltet, etwas sehr einladendes aus. Ein Mann kommt
heraus, dick eingepackt und trotzdem über das ganze Gesicht strahlend. Er
repräsentiert so ziemlich das, was man sich unter einem modernen Indianer
vorstellt. Langer, grauer Zopf, dunkle Haut, die Kleidung altmodisch und hier
und da etwas Traditionelles dabei.
Und dann sagt er irgendetwas, das
ich wirklich nicht verstehe und versuche so lautlos wie möglich meine Tür zu
schließen. Der Mann bemerkt mich erst in diesem Moment und sein Strahlen wird
nur noch breiter: „Ach, du hast uns jemanden mitgebracht.“ Und plötzlich
spricht er meine Sprache und mir wird etwas hinten in die Kniekehlen gerammt,
sodass ich in die Knie gehe.
Ich bin wieder gefesselt und
registriere, dass ich mich mitten auf einem großen Platz befinde. Rings herum
haben sich die Stammesangehörigen versammelt und starren mich an, die einen
wirken desinteressiert, ein paar höhnisch, viele aber winken einfach nur ab und
verlassen die Versammlung bereits wieder. Wieso kann ich mich nicht einmal mehr
daran erinnern, wann genau wir diesen Platz betreten haben? Da sind andere
Erinnerungen, es verschmilzt und schon alleine beim Gedanken daran fängt mein
Kopf an höllisch weh zu tun.
Der Platz ist nicht sehr riesig,
ich knie in der Mitte, auf einem zerrissenen, braunen Stoff, den sie einmal
gespannt hatten. Wir wissen von einigen Erkundungstrupps und ich habe es in
ihrem alten Dorf, weiter nördlich, selbst gesehen, dass sie dieses Tuch
gespannt haben und dort drauf trainieren. Es katapultiert einen in die Höhe, ob
das aber sonderlich fördernd für Kämpfe ist weiß ich nicht. Dieses hier ist
nicht gespannt, es ist gerissen, liegt einfach nur kaputt auf den Boden,
während sich die Holzränge um mich herum erheben und ich wie in einer Art Arena
aufblicken muss, um mein Schicksal zu erfahren.
Der Indianer steht neben mir, ich
kann mich noch genau an seine Stimme erinnern, seine Worte und weiß nicht
genau, ob das bloße Einbildung war. Es muss, denn alles andere würde keinen
Sinn ergeben. Wieso kann mir nicht einfach irgendjemand etwas Alkohol geben
oder mich wenigstens kurz und schmerzlos ausknocken, dann würden auf diese
Kopfschmerzen aufhören. Alles hier wirkt etwas provisorisch und auch herunter
gekommen. Die Stämme aus denen das Podium gebaut ist sind morsch, knicken unter
dem Gewicht teilweise ein und sind nicht bemalt, wie es in ihren verlassenen
Dörfern der Fall war. Das alles hier ist irgendwie schnell zusammen gezimmert
worden, man hat versucht an der Tradition festzuhalten und scheint einfach
darauf zu hoffen, dass alles wieder gut wird.
Die Indianer selbst sind alle von
Kriegsbemalung überzogen, rot, schwarz, weiß, teilweise auch mit exotischeren,
bunten Farben, die grell auf ihrer dunklen Haut wirken. Aber weder haben sie
ihren opulenten Haarschmuck noch sonstige Dekoration. Der traurige Abklatsch
eines großen Volkes, genauso sieht es aus und ich knie zu ihren Füßen und bin
abhängig von ihrer Gnade oder eben dem Hass ausgeliefert, da ich mir sicher
bin, dass sie uns die Schuld geben.
Ein Mann erhebt sich, er ist alt,
die Haare sind beinahe weiß und als er den Mund aufmacht scheinen seine Zähne
zu strahlen, was an der verbrannten, dunklen Haut liegt. Tiefe Falten zieren
sein Gesicht und er hält einen reichlich verzierten und schön geschnitzten Stab
in der Hand. Dieser ist ab der Hälfte einmal zerbrochen und wird mit Schnüren
zusammen gehalten, das Ende wippt trotz allem etwas und scheint jeden Moment
abzufallen.
Er und der Mann hinter mir tauschen
ein paar Worte aus, ich verstehe natürlich nichts und beobachte stattdessen,
wie es immer leerer wird, sich immer mehr von dem Geschehnis abwenden. Man
könnte mich ja auch einfach frei und stillschweigen im Dschungel verrecken
lassen. Schließlich scheinen die beiden Männer sich einig zu sein, denn ich
werde noch einmal hart mit dem stumpfen Ende des Speers zwischen die
Schulterblätter geschlagen und dann grob auf die Beine gezogen. Beinahe hätte
ich vor Schmerzen aufgeschrien, beiße mir aber stattdessen auf die Lippen und
werde vom Platz gezerrt.
„Ich… ich weiß ja nicht einmal wie
ich hier gelandet bin. Ihr müsst mich nicht töten, wirklich. Es ist nicht so,
als könnte ich irgendwem verraten wo ihr seid“, kann ich wirklich nicht, denn
für die Piraten bin ich gestorben und ich bin mir sicher dass Meerjungfrau und
Co nichts mit dieser Information anfangen können. Als würde die sich aus ihrem
Teich schwingen und mit ihrer Miniarmee, und das meine ich auf Anzahl und Größe
bezogen, aufmachen um mich zu retten. Bis die hierher gerobbt ist, bin ich längst
tot.
Es geht eine Leiter hinauf, mit
gefesselten Händen recht schwierig ist und mich der Indianer schlauer Vogel
einfach so am Arsch anhebt und hochschiebt, ganz ohne Hemmungen. Wahrscheinlich
denkt er ich wäre ein Mann oder es ist ihm egal. Vielleicht ist unser guter
Indianer Grabschi auch einfach so abgestumpft gegenüber seiner Umwelt, dass es
ihm nicht einmal unangenehm wäre, wenn neben ihm ein Nimmervogel ordentlich ein
Ei legt. Aber ich rede hier nicht von Nachwuchs.
Umständlich werde ich hochgeschoben,
versuche mich selbst irgendwie festzuhalten und Stückchen um Stückchen voran zu
ziehen, während ich feststelle, dass diese Leitern wirklich hoch sind. Huh,
geht’s da runter. Ein Blick nach unten und ich wäre wohl erstarrt, einfach so
festgefroren, hätte mich nicht wieder etwas von unten angehoben. Knurrend und
ächzend ziehe ich mich Sprosse für
Sprosse weiter, komme schließlich oben an der Kante der hölzernen
Plattform an und habe nun ein entscheidendes Problem. Ich kann mich gar nicht
hochziehen. Haha.
Aber bevor ich mich noch wirklich
mit dieser etwas verzwickten Lage auseinander setzen kann, registriere ich die
zwei Paar Füße, welche uns scheinbar schon erwartet haben. Sie sind nackt,
haben dunkle Haare auf den dreckigen Zehen und ebenfalls denselben Hauttyp wie
mein stummer Begleiter. Ich werde unter den Achsen gepackt und einfach von zwei
stämmigen und ebenfalls grimmig kuckenden Indianern hochgehoben. Sie sind nur
ein Stück größer als ich, zeigen jedoch Respekt, kaum dass sich Häuptling ohne
Zunge ebenfalls hochgezogen hat. Ja, ich sollte aufhören ihn Häuptling zu
nennen, dieser eine Weißhaarige war sicher der Häuptling oder eben Medizinmann,
aber irgendwie würde es zu ihm passen.
Mir fällt jetzt erst seine recht
enorme Körpergröße auf. Dass er groß sein muss ist mir nicht entgangen, aber
wenn man so umgeben ist von ebenfalls recht hoch gewachsenen Leuten, dann wird
seine Körpergröße einem noch mehr bewusst. Er überragt die meisten um gut einen
halben Kopf, sieht noch strenger und grimmiger aus, als es die anderen
hinbekommen und gibt mich scheinbar, ohne einen weitere Kommentar oder sich
noch irgendwie verantwortlich zu fühlen, an die anderen beiden ab. Mit offenem
Mund sehe ich ihm hinterher, als er sich einfach abwendet und über die
Plattform zu einer Hängebrücke geht. Hallo, wenigstens so ein paar Worte zu
meiner Wenigkeit wären doch angebracht gewesen, wenigstens mein hervorragendes
Führungszeugnis könnte man erwähnen. Ich habe ihn weder angegriffen noch
Fluchtversuche gestartet oder ihn beleidigt, zumindest nicht laut. Das kann man
doch nur einen Vorzeigegefangenen nennen.
Die zwei Männer mit den dreckigen
Füßen bringen mich weiter, fassen mich aber nicht weiter an, was mich etwas
erleichtert. Dieses ständige angekrabbel ist wirklich nicht so meine Sache, ich
bin allgemein kein sehr körperlicher Mensch. Hätte wahrscheinlich eine
schlechte Dirne abgegeben, aber ob ich als Pirat so viel besser war? Konnte ich
auch nie wirklich feststellen, immerhin haben wir während meiner Zeit keinen
offenen Krieg gegen die Indianer geführt, keine Meerjungfrauen gejagt, keine
verlorenen Jungs gefunden oder Seeschlachten geschlagen. Eigentlich bin ich nur
in einem gut: Saufen. Gut, vielleicht zwei Dingen: Saufen und mir den Hals
retten. Wobei ich dafür ja Hilfe hatte, aber so viel Glück braucht man erst
einmal.
Angespannt trotte ich hinter den
beiden her, einer hält das Ende des Stricks, mit welchen ich gefesselt bin und
ich fühle mich ein bisschen wie ein Hund. Aber wäre ich ein Hund, dann würde
ich wohl nicht getötet werden oder von zwei Wächtern bewacht. Dafür müsste ich
ein großer und wirklich böser Hund sein und irgendwie wäre ich das sicher auch
nicht. Bin eher so das abgemagerte, schlechte Modell, dass sich wankende nur
schlecht auf den Beinen hält und immerzu in der falschen Richtung die Witterung
aufnimmt.
Leise knirscht das Holz unter
meinen Füßen, über mir, unter mir, Rascheln, Knarren, Schritte, Stimmen, auch
etwas Musik von Trommeln und ich kann sogar auf einer höheren Plattform links
von mir ein paar Kinder sehen, welche mit Stöcken das Kämpfen üben. Wir gehen
an Wächtern vorbei, aber auch ganz normalen Arbeitern, die die Plattformen
instand halten, Frauen die große Körper auf den Köpfen balancieren, spielenden,
lachenden Kindern.
Dieser Ort scheint noch so
unberührt von all dem Leid, welches Nimmerland eingeholt hat, trotz allem
blättert auch hier bereits die Farbe ab. Dicht an den Stämmen selbst stehen
Häuser. Sie wirken eher wie Zelte ober übergroße Zwiebeln, sind abgerundet und
laufen oben Spitz zu. In diesem Fall sind sie aus Stroh und Holz gebaut, aber
in den verlassenen Dörfern habe ich sie schon viel farbenfroher gesehen. Aus
buntem Stoff, mit Federn der Nimmervögel geschmückt, die in den verschiedensten
Farben daher kommen. Die Indianer sind kein trauriges Volk und eigentlich
lachen sie auch viel, zumindest bemühen sie sich das Klima positiv zu halten.
Einige sehen grimmig aus, manche
unbeteiligt, aber sie haben es hier ja auch noch wesentlich besser als wir
außerhalb des Dschungels. Wie lange sie hier aber noch sicher sind, das steht
in den Sternen. Plötzlich biegen wir nach rechts ab, auf einen Steg. Es ist das
größte Haus von allen, welches man auch bereits aus einiger Entfernung von
jeder Plattformt aus sehen kann. Es befindet sich an keinem Stamm, sondern wird
von einer sternenartigen Stegkonstruktion gehalten und eben diese kommen von
den verschiedenen Plattformen und bündeln sich. Dieses Haus ist das einzige,
welches noch an die besseren Tage erinnert, es leuchtet in den verschiedensten
Farben, rot und gelb, lila, rose, grün und blau. Ein Wirrwarr, welches doch
perfekt ineinander übergeht, aus Tüchern und festen Wänden bestehend und
umgeben von leuchtenden Fackeln.
Ohne zu Zögern laufen meine Wächter
mit den schmutzigen Füßen weiter und genau darauf zu. Mir wird bei jedem
weiteren Schritt mulmig, vor allem als ich so manchen Blick bemerke. Leute,
Arbeiter, Mütter, die an mir vorbei gehen und der ein oder andere mir
tatsächlich so etwas wie einen Mitleidigen Blick schenkt. So ganz grob kann ich
mich da an etwas erinnern, weiß es dann aber doch nicht mehr sicher. Der
Alkohol, das altbekannte Problem. Aber habe ich nicht einmal gehört, dass die
Indianer uns die Schuld an all dem geben. An der Kälte und dem Sterben. Meine
Vollbremsung wird einfach ignoriert, einer der Eingänge geöffnet, die Stoffe
zur Seite geschlagen und ich mit hinein gezogen, ob ich möchte oder nicht. Da
ich seit Tagen nicht wirklich etwas gegessen habe noch viel getrunken, habe ich
ohnehin keine Kraft.
Wärme schlägt mir entgegen, prickelt
auf der Haut und lässt den Schweiß ausbrechen, wobei dieser auch von der Angst
kommt, welche mir auf einen Schlag die Kehle zuschnürt. Mir ist so erbärmlich
heiß, wobei ich gleichzeitig zittere. Es ist nicht stickig, das muss ich ihnen
zugutehalten und doch bekomme ich plötzlich so viel schlechter Luft. Das Zelt
ist in der Mitte eben, gewobene Teppiche und Tücher sind auf dem Boden verteilt
und erst an den Wänden erheben sich Ränge, wohl für größere Debatten oder
Abstimmungen. In der Mitte des Daches ist ein Loch, durch welches das immer
dunkler werdende Tageslicht herein sickert und es, falls man ein Feuer
entzündet, wohl dazu dient den Rauch hinaus zu lassen.
Es ist still, als ich herein
gebracht werde und mich damit konfrontiert sehe, dass der Indianer bei meinen
Fesseln wirklich ganze Arbeit geleistet hat. Egal wie sehr ich reibe oder
ziehe, sie bewegen sich nicht, sondern scheinen sich nur noch tiefer in mein
Fleisch zu graben. Den Häuptling erkenne ich sofort, er hält den Stab wieder in
Händen, sitzt aber im Schneidersitz auf einer kleinen Plattform und neben ihm,
etwas weiter unten, befinden sich vier weitere Männer. Diese sind vom Alter
bunt gemischt, der Jüngste ist vielleicht gerade ins Mannesalter gekommen und
der Älteste scheint kaum mehr aufrecht sitzen zu können. Neben der Plattform
steht ein Mann, welchen ich nicht als sehr sympathisch empfinde und der bereits
mit einigen Waffen ausgestattet ist, was mich nur noch mehr beunruhigt.
Ohne einen Kommentar oder eine
Begrüßung werde ich vor dem Podest auf die Knie gestoßen und lasse mich auch
bereitwillig auf diese Fallen. Die Stille macht mir zu schaffen und diese
beobachtenden Blicke hemmen mich soweit, dass ich mich offen nach Fluchtwegen
umsehe. Es gibt viele Ausgänge, zu jedem Steg einen, aber jeder ist
verschlossen und wahrscheinlich befinden sich auch vor den meisten Wachen.
Je länger sich die Stille zieht,
desto ungeduldiger werde ich und fange auch unverblümt an die Anwesenden zu
mustern. Meine zwei Wachen haben sich wieder nach draußen verzogen und somit
könnte ich rein theoretisch auch aufstehen und einmal kucken, wie weit ich
komme, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie es genau darauf anlegen.
Nervös sehe ich wieder den Mann an, welcher neben dem Podest steht. Er hat nur
ein Auge, das andere wirkt milchig und blind, eine Narbe zieht sich rechts von
seiner Schläfe über das Auge und bis hinab zur Wange. Auch sein rechter
Mundwinkel hängt in einem seltsamen Winkel hinab. Er ist nicht sehr groß, aber
muskulös und wirkt, als wäre er eindeutig zu allem bereit. Vor allem sprechen
die kräftigen Muskeln in den Füßen dafür, dass er wesentlich schneller rennen
kann als ich.
Ich mustere die verschiedenen
Klingen, welche am Gürtel seiner weiten, dunklen Hose befestigt sind. Sie
glänzen alle, sind gut gepflegt und Messerscharf, einige haben seltsame
Widerharken, Ecken und Kanten, sind vorne abgestumpft oder sehen aus wie lange
Nadeln. Mir wird schon beiden Gedanken daran schlecht, was er damit machen
könnte.
Hastig wende ich den Blick ab und
mustere stattdessen die nächste Person. Es ist der Jüngste von allen, er hat
braunes Haar, es wirkt ziemlich hell und auch seine Haut ist nicht ganz so
dunkel. Die Kriegsbemalung wirkt eigenartig an seinem noch schmächtigen Körper
und ich schätze ihn auf vielleicht 15 Jahre, maximal. Er versucht grimmig zu
kucken, aber durch das noch runde Gesicht und die Pickel, wirkt das eher
kläglich. Der Blick des alten direkt neben ihm ist dafür umso perfekter. Die
Haare sind schlohweiß, stehe etwas wirr ab und sind eigentlich zu einem
geflochtenen Zopf nach hinten gefasst. Er wirkt ein bisschen wie ein Vogel, mit
den dürren Gliedern und der langen, krummen Nase. Die langsam erblindenden
Augen sind unter den buschigen, weißen Brauen nur zwei Schlitze. Das ganze
Gesicht scheint nur aus Falten zu bestehen und seine Hände sehen aus wie die
langen Glieder von Spinnen, dünn wie Äste.
Mein Blick wandert nach Links, ganz
links, da ich es irgendwie nicht schaffe den Häuptling einer Musterung zu
unterziehen. Stattdessen beschäftige ich mich mit der Frau und überrascht
wandern meine Augenbrauen nach oben. Eigentlich habe ich nicht damit gerechnet,
dass jemand weibliches hier dabei ist und finde es auch eigenartig, dass sie
überhaupt so etwas zulassen. Bei uns sind Frauen nur Frauen… Dirnen eben. Es
haben nur Männer das Sagen.
Ihr braunes Haar ist von grauen
Strähnen durchzogen, welche schimmern wie silberne Fäden. Die Augen sind
seltsam hell, haben einen Grünstich und verunsichern mich. Sie hat bereits
Falten, ihr Gesicht ist etwas rund, so wie ihr ganzer Körper. Sie wirkt wie
eine Mutter, streng, aber da entdecke ich dieses leichte, feine Schmunzeln. Es
ist irritierend.
Schließlich, nachdem ich sie eine
ganze Weile angestarrt habe, man mir die Überraschung wahrscheinlich auch deutlich
angesehen hat, überwinde ich mich doch. Ich sehe ihn an und kann mich nur
schwer daran hindern nicht sofort wieder die Augen niederzuschlagen. Er starrt
mich an, schon die ganze Zeit, so wie es die anderen eben auch getan haben. Die
Augen des Häuptlings sind beinahe schwarz, seine Brauen erinnern mich an die
nettere Version des Alten und sein Haar ist ebenfalls Grau, aber nicht von
einzelnen, schön verteilten Strähnen durchzogen, wie das der Frau, sondern wird
fleckenartig heller.
Sein Gesicht ist etwas langgezogen,
wirkt aber nicht abgezehrt und die Falten nehmen etwas von der Härte, die er
ausstrahlt. Man merkt sofort, dass er die absolute Autorität hat, alleine an
seiner Körperhaltung und der Ausstrahlung. Mir läuft es bei diesem grimmigen
Gesichtsausdruck bereits kalt den Rücken hinab und ich kann nur schlecht das
harte Schlucken unterdrücken. Eine scheinbare Ewigkeit knie ich bereits hier,
warte, dass irgendetwas passiert, dass jemand etwas sagt oder sich plötzlich
dieser stehende Typ bewegt und mich anfängt aufzuschlitzen.
Aber es passiert einfach nichts und
das macht mich beinahe noch verrückter. Ich will aufstehen, loslaufen, einfach
weg und bin mir bewusst, dass bevor ich auch nur einen Schritt getan habe, ich
wahrscheinlich schon nieder gestreckt werde. Nervös fange ich an hin und her zu
rutschen, meine Füße fangen langsam an taub zu werden und das Kribbeln in den
Zehen wird unerträglich. Ich beiße die Zähne zusammen, zwinge mich so zu
bleiben und gleichzeitig den Blick des Häuptlings zu erwidern. Und egal wie
lange ich da sitze, warte, mich nicht rühre und darauf hoffe, es irgendwann
herbei sehne, es passiert gar nichts. Vor lauter Anspannung kann ich erst nicht
atmen, aber irgendwie wird es tatsächlich langsam besser, statt schlechter.
Eigentlich habe ich damit
gerechnet, dass ich verrückt werden würde vor Nervosität, aber da sich einfach
gar keiner rührt und meine Füße mich mittlerweile umbringen, denke ich mir
irgendwann, dass auch in der nächsten Zeit nichts mehr passieren wird. Also erscheint
mir das ein Test und diese Schlauheit hätte ich mir selbst dann doch nicht
zugetraut. Abgesehen davon sind meine Füße mittlerweile so taub, dass ich
einfach so zur Seite umkippe und um eben das zu verhindern stemme ich mich
etwas hoch, was alle Anwesenden tatsächlich kurz dazu bewegt mich noch
wachsamer zu beobachten. Ja und dann renne ich nicht weg, sondern ziehe die
Füße unter meinem Arsch hervor, strecke sie aus und ächze etwas, als das Blut
in diese zurück fließt.
Und das war‘s auch schon.
Beinahe wirken sie etwas
enttäuscht, vielleicht kommt mir das auch nur so vor und die angespannten
Schultern sinken wieder hinab, als ich so anfange umständlich meine Füße zu
reiben. Wie das kribbelt, fast noch schlimmer als zuvor. Hätte ich sie einfach
abgeklemmt, bis sie elendig abgestorben sind. Oder auch nicht.
Es passiert wieder lange nichts,
ich werde angestarrt, starre zurück, ab und zu. Der Bann scheint irgendwie
etwas gebrochen, ich kratze mich an der Nase, sehe mich um und mustere den Raum
in aller Seelenruhe. Hier und da werden die schweren Stoffe an den Eingängen
vom Wind angehoben und das ist auch schon das aufregendste, das passiert. Wobei
es auch immer interessant ist zu beobachten, wann einer der Anwesenden blinzelt
und das tun die wirklich, wirklich selten.
Meine Füße haben wieder zurück zu
den Lebenden gefunden, von draußen dringen Stimmen und Schritte an meine Ohren,
Hämmern und andere Arbeitslaute. Es lebt und doch scheint hier drin die Zeit
still zu stehen. Schließlich wird es immer dunkler, ich kann kaum noch ihre
Gesichtszüge erkennen, warte und frage mich, was genau ich hier eigentlich tue.
Ob das eine Art Folter ist? Ob sie darauf warten, dass ich fliehe und mir dann
deswegen die Kehle durchschneiden?
Es wäre eine Möglichkeit und eben
deswegen bleibe ich sitzen, habe den Kopf mittlerweile in den Nacken gelegt und
sehe durch das Loch in der Decke hinauf. Erst waren die langen, roten Streifen
am Himmel zu sehen, welche sich ihren Weg durch die Wolkendecke bahnen. Hier
ist der Himmel nicht ganz so verhangen und kein Ast versperrt mir den Blick.
Dann ist es immer und immer dunkler geworden, das rot satter, bis es zu einem
Lila übergegangen ist und der Himmel selbst, von kaltem graublau,
ausgewaschener wurde, um schließlich schwarz zu werden.
Als die ersten Sterne auftauchen
liege ich auf dem Rücken, sehe hinauf und atme ruhig. Nach wie vor beobachten
sie mich, völlig starr und schon alleine dafür
verdiene sie meine Bewunderung. So lange still zu sitzen erfordert ein
hohes Maß an Disziplin und Ausdauer, beides Dinge, die ich nicht habe.
Mich haben schon immer die Sterne
fasziniert und ihr Anblick, sie endlich wieder zu sehen, statt einer
verhangenen, dunklen Nacht, lässt mir doch tatsächlich die Tränen in die Augen
steigen. Als würde ich gute Bekannte nach einer Ewigkeit wiedersehen und
registrieren, wie sehr ich sie doch vermisst habe. Es hat auch etwas ungemein
beruhigendes, vor allem dieser ruhige Atem der andere, neben dem meinen, das
leichte Schwanken und Knarren des Bodens.
Es ist nicht unangenehm und ich
mache mir auch nicht die geringsten Sorgen, dass er jeden Moment einstürzen
könnte. Sie bauen ihre Dörfer schon viel länger als es mich gibt, viel länger,
als es die Piraten nach Nimmerland verschlagen hat und viel länger, als sie
sich wohl selbst erinnern können. Was wohl mein Vater von all dem halten würde?
Und ganz plötzlich ist da diese Leere, diese erdrückende, bittere Leere, die
nach mir greift. Ich blinzle, vertreibe die Gedanken, den Schmerz und die
Tränen. Der Anblick der Sterne hat nichts Gutes mehr an sich, tröstet mich
nicht mehr, sondern ist beinahe unerträglich.
Ein Licht, rechts von mir im
Augenwinkel und ich hebe etwas den Kopf, drehe ihn und registriere den langen
Schatten, welcher durch den Eingang hinein in die Dunkelheit geworfen wird.
Jemand kommt herein, hinter ihm fällt das Tuch zurück und der große Körper
bewegt sich beinahe völlig lautlos. Er kommt auf mich zu, wie ich völlig
ausgeliefert am einzigen Fleck liege, durch welchen etwas von dem fahlen Licht
der Nacht herein kommt. Beinahe erleichtert stelle ich fest, als ich grob auf
die Beine gezogen werde, dass es sich um niemand geringeren, als meinen
liebevollen stummen Wächter Indianer grimmiger Blick handelt.
Er verzieht keine Miene, wirkt aber
auch nicht mehr halb so gefährlich wie vor ein paar Stunden. Als er mich dann
auch noch aus dieser Stille hinaus und zurück ins Leben führt, kann ich gar
nicht in Worte fassen, wie sehr ich mich freue ihn wieder zu sehen. Was genau
das alles sollte, ob ich durch den Test einfach durchgefallen bin oder ihn
bestanden habe, ob es überhaupt ein Test war, das weiß ich nicht. Es ist mir
auch egal, denn zum ersten Mal seit Stunden kann ich wieder richtig befreit
atmen.
Er schleppt mich an großen
Feuerstellen vorbei, um die herum sich Familien eingefunden haben, kochen,
reden, lachen und mich teilweise überrascht mustern. Es geht immer weiter nach
oben, über Hängebrücken, auch wieder Leitern hinauf, was meine müden Muskeln
nicht sehr erfreut. Beinahe blind vor Erschöpfung stolpere ich vor oder hinter
ihm her. Meine Handknöchel tun entsetzlich weh, ich habe schrecklichen Durst,
mein Magen knurrt laut und schon der Geruch des Essens kommt mir wie die
schlimmste aller Strafen vor.
Schließlich, abseits der
Behausungen und vor allem der scheinbaren Dorfmitte, dort wo es dunkler und
ruhiger ist, wird er langsamer und ich seufze erleichtert auf. Plötzlich hält
er inne, ich stolpere natürlich gegen ihn, murmle eine Entschuldigung und
versuche vehement nicht hinab in diesen Abgrund zu starren. Geht’s da weit
runter, verdammt.
Erst als er auf den Stamm zutritt
und dort ein paar Schritte hin und her geht, registriere ich die scheinbaren
Vertiefungen. Es sieht beinahe aus, als hätte jemand lange Striche in den Baum
geritzt. Um was genau es sich handelt verstehe ich erst, als er scheinbar
bewusst auf eine glatte Stelle an der Rinde drückt, diese unter ihm ein Stück
nachgibt und sich dann eine Tür in unsere Richtung öffnet. Ich starre und mir
klappt der Mund auf. Er zieht leicht am Seil und ich bleibe stehen, sehe ihn
ungläubig an. „Oh vergiss es, Freundchen“, bringe ich heißer heraus und
stolpere dann nach vorne, als er etwas fester zieht. Mit einer Hand
wohlgemerkt, bin ich ein Schwächling. Seine dunklen Augen sehen mich
unbarmherzig an und all die Freude, die ich erst empfunden hatte, als ich ihn
wieder gesehen habe, weicht. Nein. Ich will nicht lebendig in einen Baum
gesperrt werden.
Das sage ich sogar laut, stemme
mich mit den Füßen ab und stolpere doch weiter voraus. Er greift nach mir, ich
schlüpfe ihm flink unter den Händen davon und tatsächlich, das erste Mal, dass
er so etwas wie ein Wort oder einen Fluch von sich gibt. Hastig laufe ich um
ihn herum, natürlich hält er nach wie vor meine Leine in der Hand, was die
ganze Aktion sinnlos macht, aber man kann ja noch hoffen. Ich laufe, es macht
einen Ruck und plötzlich ist da nicht mehr so viel Schnur übrig und ich habe
ihn mehr oder wenig am Oberkörper gefesselt. Eine Augenbraue hochgezogen
mustert er mich, wie ich direkt vor ihm stehe, die Arme nach wie vor gefesselt,
etwas außer Atem und nicht weiß, was ich überhaupt tun soll.
Ich könnte ihn ja schreiend
anspringen und an seinem aus harter Muskelmasse bestehenden Oberkörper
abprallen. Oder ich umkreise ihn noch so lange bis er keine Lust mehr hat und
er sich dann drehen muss, um sich zu entheddern. Der Blick wird noch böser, was
ich gar nicht für möglich gehalten hätte und etwas kleinlaut laufe ich
tatsächlich wieder zurück und entschnüre ihn freiwillig.
„Krieg ich wenigstens was zu
trinken?“, frage ich, als ich unter diesem doch einschüchternden Blick und mir
wieder der Tatsache bewusst, dass ich am höchsten Punkt dieses Dorfs wohl
wirklich geringe Fluchtchancen habe, mit Höhenangst, freiwillig in mein
Gefängnis gehe.
Keine Antwort, wie könnte es auch
anders sein. Ich stelle mich in die dunkle Kammer, welche gerade so hoch ist,
dass ich gerade stehen kann und eine Art langer Gang ist. Hinter mir gibt es
ein seichtes Licht, vor mir steht der Indianer, löst tatsächlich etwas die
Fesseln und nimmt mir diese ruppig ab. Ich starre ihn böse an, er starrt böse
zurück und bevor dieses Blickduell hätte ausgefochten werden können, macht er
einfach die Tür zu.
„Ey, Arschkrampe. Die elendes,
kurzgesichtiges Schnabeltier, gib mir wenigstens was zu trinken“, schreie ich
und trete nach der Tür, was mein Fuß mir nur mit Schmerzen dankt. Verräter.
Alles Verräter. Schlecht gelaunt sehe ich mich um, humple etwas zur Seite und
stelle fest, dass ich vielleicht zwei Schritte im Durchmesser habe, dafür wirkt
das Licht am Ende des Ganges durch die plötzliche Dunkelheit umso heller. Ein
frischer Luftzug lockt mich und doch etwas misstrauisch humple ich voran, mich
dabei an den hölzernen Wänden abstützend. Es ist eigenartig sich in einem Baum
zu befinden, wirklich eigenartig und umso eigenartiger wird es, als das Licht
immer und immer heller, vor allem auch immer größer wird. Es ist fahl und nur
von unten sind die Feuerscheine zu erahnen, ansonsten ist es einfach nicht so
dunkel, wie es völlig abgeschieden von der Außenwelt wäre.
Ich trete näher heran und erkenne,
dass es sich dabei um eine Art Fenster handelt oder viel mehr sieht es aus, als
hätten sie die Rückseite des Ganges völlig entfernt. Es gibt kein Geländer oder
etwas dergleichen, sondern es ist einfach nur ein Abgrund, der sich dort unter
mir auftut. Mich an der Wand festhaltend gehe ich noch etwas weiter nach vorne,
vorsichtig und auf jeden Schritt achtend. Es ist dunkel und man kann die Tiefe
nur erahnen, aber trotzdem schnürt es mir schon beim bloßen Gedanken wie weit
es runter gehen könnte, den Atem ab. Hastig trete ich wieder zurück, halte mich
zitternd fest und versuche ruhiger zu atmen.
Von unten kann ich das Rauschen der
Wellen hören, das Klatschen der Brandung und unter mir auch das Glitzern des
Wassers erahnen. So wird man seine Feinde wohl am besten los. Man lässt sie
sich einfach selbst entsorgen.
Irgendwann registriere ich, dass
mein Magen im Gleichklang zu der Musik knurrt und als die Musik aufhört, da ist
nur noch mein Magenknurren übrig. Und mein Mund fühlt sich an, als hätte ich in
richtig schön eine Runde Sand im Mund. Der Durst ist schlimmer als der Hunger,
aber am fiesesten ist, dass man im hier in einem völlig trockenen, warmen
Gefängnis feststeckt. Ich könnte nicht einmal die Wände ablecken, könnte schon,
aber es bringt mir nichts, bis auf ein Spreißel in der Zunge.
Die letzten Geräusche verstummen,
es bleibt nichts als Stille, selbst die Lichter unter mir erlöschen, eines nach
dem anderen und ich sitze mittlerweile da, habe die Füße über der Kante hängen
und sehe hinab. Der Stamm geht gerade nach unten, keine Äste, keine wirkliche
Vertiefungen, nichts woran man sich festhalten könnte.
Zumindest soweit ich sehen kann bei
dieser Dunkelheit. Aufknurrend lasse ich mich nach hinten auf den Rücken fallen
und bleibe so liegen, die Arme über dem Kopf ausgestreckt. Vielleicht sieht ja
morgen alles besser aus. Mein Magen grummelt wieder leise vor sich hin, meine
Kehle fühlt sich an, als würde sie aus Schmirgelpapier bestehen und brennt.
Angefressen drehe ich mich herum, schlinge dann doch die Arme um den
Oberkörper, bereue, dass ich die Jacke an dem See liegen lassen habe und
natürlich jetzt die kalten Winde zu mir herein kommen.
Fröstelnd ziehe ich die Füße an,
rolle mich zusammen und bleibe etwa einen halben Meter vom Abgrund entfernt
liegen. Ich könnte auch weiter hinein, da würde ich weniger frieren, aber ich
fühle mich nicht imstande auch nur noch einen Schritt zu tun, geschweige denn
aufzustehen. Vielleicht hoffe ich auch einfach, dass ich im Schlaf runter falle
und sterbe ohne es zu merken.
~
Es kommt mir vor, als wären mir nur
ganz kurz die Augen zugefallen. Ein Blinzeln nicht mehr und ganz plötzlich ist
es Morgen. Mein ganzer Körper tut weh, ist völlig verspannt und kurz kann ich
nicht ganz feststellen wo ich bin. Ich sehe immer noch hinaus, aber das Fenster
ist kleiner und als ich den Kopf hebe, mich etwas rege, raschelt es leise. Die
Decke ist um mich gewickelt und das Kissen plattgedrückt. Kein harter Boden
mehr sondern stattdessen eine durchgelegene Matratze und der Wind bläst kalt
durch das gekippte Fenster herein.
Fröstelnd versuche ich die Augen
offen zu halten, nicht direkt wieder wegzudösen und mich endlich aufzuraffen,
um das Fenster zu schließen. Ein weiterer, kalter Stoß und ich werfe die Decke
endlich von mir und komme in die Senkrechte. Meine ganze Umgebung wirkt für
mich seltsam falsch, außerdem weiß ich nicht einmal genau wo ich bin noch wie
ich hier gelandet bin. Ich trage ein weites T-Shirt am Leib, das mir nicht
gehört, dazu eine weite Männerjogginghose und dicke Wollsocken. Meine Sachen
hängen über einer Stuhllehne. Der ganze Raum ist sehr… minimalistisch
eingerichtet oder karg, eher karg. Eine Kommode, ein Bett und ein Stuhl, das
war‘s. Alles aus dunklem, altem Holz gefertigt, sowie die Decke selbst auch.
Kahl aber doch sehr einladend und
warm. Es wirkt einfach gelebt und heimelig, sodass ich mich nicht weiter unwohl
fühle. Einige Bruchstücke kommen zurück und der Hunger, welcher bis Dato
scheinbar an mir genagt hat, wirkt surreal, da ich eigentlich ein warmes
Abendessen hatte. Ich hatte zu Trinken und zu Essen, ich hatte nette
Gesellschaft und die Indianer waren sehr freundlich, aber trotz allem sind die
Erinnerungen nur Bruchstückhaft. Als wäre ich betrunken gewesen und könnte mich
dank des Filmrisses nicht mehr erinnern, stattdessen sind da andere Dinge, die
ich noch weiß.
Ich weiß noch genau wie ich vor die
Anführer geführt wurde, wie ich Stunden lang da gekniet bin und darauf gewartet
habe, dass etwas passiert. Und ich erinnere mich noch genau daran, wie es in
dem Baum gerochen hat, wie sich das Holz angefühlt hat und der kühle Wind an
mir zog. Es wirkt irgendwie seltsam, so viel echter, so viel realer als das
Jetzt und Hier. Es ist eigenartig.
Dass ich bereits längere Zeit am
Fenster stehe, den Kopf abgewandt und meine Kleidung anstarre, in den eigenen
Gedanken verloren, realisiere ich erst nach einer Weile. Nur langsam komme ich
zurück, bin noch in der eigenen Müdigkeit gefangen und schaffe es die Hand zu
heben und nach dem Fenstergriff zu greifen. Ich drücke und es kostet mich mehr
Kraft als ich gedacht habe um es zu schließen, den Griff umzudrehen und endgültig den kalten
Wind auszusperren.
Vor mir erstreckt sich eine lange
Ebene, der Berg erstreckt sich einladend, ruft und doch hat sich etwas
verändert. Alles ist unter einer weißen Decke verborgen und irgendwie sollte
mir wohl das Herz dadurch in die Hose sinken, alleine beim Gedanken, dass ich
wohl da draußen erfroren wäre. Schwerfällig wende ich mich wieder ab, vom
seichten Sonnenaufgang, schlurfe zurück zum Bett und lasse mich darauf fallen.
Tief vergrabe ich mich unter der Decke, stecke den Kopf darunter und schlafe
sofort wieder ein.
~
Ich schrecke hoch als mich etwas
hart im Gesicht trifft. Völlig außer mich schlage ich mit den Händen um mich,
versuche die Orientierung zu finden und reiße die Augen auf, nur um direkt
unter mir in den Abgrund zu blicken. Der Schrei, welcher nun den wohl schon
fortgeschrittenen Morgen durchbricht, hallt laut wieder und ist vielleicht
sogar noch unten im Tal zu hören.
Bis zu den Schultern hänge ich über
der Kante, mir ist auch etwas schwindelig, was wohl an dem vielen Blut liegt,
dass mir in den Kopf geflossen ist. Hastig und mit wild hämmerndem Herz ziehe
ich mich wieder hinein, bleibe erst einmal zittern auf dem Boden liegen und
wische mir, nachdem ich mich wieder etwas beruhigt habe, das Feuchte vom Kinn.
Habe ich ernsthaft im Schlaf gesabbert?
Ein Krächzen lässt mich erneut
hochschrecken und als wäre mein Morgen nicht bereits aufregend genug gewesen,
sehe ich vor mir im Gang einen Vogel. Einen großen Vogel, mit buntem Gefieder
und Skeletkörper. Oh nein. Mir fällt beinahe alles aus dem Gesicht als ich den
Nimmervogel anstarre, mich frage, wie dieser hier herein gekommen ist und wie
er überhaupt aufrecht im Gang stehen kann.
Er nähert sich langsam entlässt
aufgebrachte Schreie und ich registriere, als ich mich langsam aufrecht
hinsitze und unauffällig Richtung Wand robbe, dass es sich hierbei um einen
Babyvogel handelt.
Trotzdem hat er Krallen und einen
Schnabel und ich sehe doch noch einmal über die Schulter, falls die Mutter
dicht auf den Fersen ist. Nein, nichts dergleichen. Das kleine Wesen sieht mich
an, krächzt noch einmal und hüpft dann ein paar Schritte auf mich zu, dabei auf
dem Boden interessiert herum pickend. Es wirkt etwas zerzaust und zerrupft, hat
noch eher einen weichen Flaum, der durchzogen ist von ein paar bunten, aber
noch kurzen Federn. Ich habe noch nie einen Nimmervogel in der Größe gesehen
und ja, irgendwie hat es ja etwas Niedliches an sich, wie es mich ansieht,
herum hopst und dann ganz plötzlich in mein Bein pickt, sodass ich aufschreie.
„Oh verdammt“, presse ich heraus,
trete nach dem überraschten Vögelchen, das nun empört etwas weghüpft und dann
wieder langsam näher kommt. Es sieht mich an, während ich mir den Fuß reibe und
erinnert mich dabei ein bisschen an den Gnom. Angefressen sehe ich zurück,
seufze schließlich und stehe langsam auf. Das kleine Wesen ist nun gänzlich
überrascht auch etwas verschreckt, als ich mich zu meiner vollen Größe
aufrichte und es mir nur noch bis zur Hüfte geht.
Was genau mache ich eigentlich
falsch? Erst der Gnom, dann diese Fee und kaum dass ich von den beiden links
liegen gelassen werde, sitzt da eine Miniversion des wohl gefährlichsten Tiers
Nimmerlands vor mir. „Nein, ich adoptiere dich nicht“, knurre ich angepisst,
eine Hand an der Wand, während ich etwas an den Rand der Kante trete.
Wie ich es bereits in der
Dunkelheit erahnen konnte geht es wirklich nur steil hinab. Keine Äste, nichts,
einfach nur ein gerader Stamm nach unten und dieser geht dann in eine Klippe
über, welche hoch über dem Meer aufragt. Nachts konnte ich es nur erahnen, aber
im schwülen Licht der Sonne, welche von diesigen Wolken verhangen ist, kann ich
bereits den Schnee auf den Wipfeln der Bäume erkennen und wie dieser näher ist,
als ich selbst dachte. Zusätzlich wird mir von der Höhe übel und als dann etwas
gegen meinen Fuß stößt schreie ich vor Schreck auf und trete danach.
Es ist der Nimmervogel, eben dieser
stupst mit seinem Kopf wieder gegen meinen Fuß und krächzt leise. „Was? Soll
ich dir meine Hand zum fressen geben?“, gifte ich das Tier an und eben dieses
hüpft ein paar Schritte zurück, weg von mir, vor zur Kante und wieder weg, als
es die Höhe sieht. Die Flügel sind noch ziemlich winzig und irgendwie kann ich
mir schlecht vorstellen, dass er damit wirklich fliegen kann. Wenn es hier
irgendwie rein gekommen ist, dann muss es ja auch wieder rauskommen… . Ich sehe
das Vögelchen an, welches bereits jetzt wesentlich größer ist als die meisten
Tiere, aber nicht halb so gefährlich wirkt wie die erwachsene Version.
Irgendwie wirkt es nicht, als
wüsste es überhaupt, wie man fliegt oder dass es fliegen kann. Außerdem gibt es
bekanntlich ja auch die Kinder, die es schaffen den Kopf zwischen den Stäben
eines Geländers durchzustecken und ihn nicht mehr heraus bekommen. Mein Vater
hat mich damals gut eine Stunde da schmoren lassen. Der Vogel sieht mich an,
legte den Kopf schief und mustert dann seine Umgebung, hüpft hin und her und
hin und her, sieht mich wieder an, sieht meine Hose an, hüpft wieder herum,
sieht mich wieder an und rammt dann schon wieder seinen Schnabel in mein Bein.
Ich schreie, hüpfe ein Stück und
trete nach dem elenden Biest, das nun endgültig verstört etwas weg hopst und es wohl nicht gewohnt ist, dass
sein Essen sich einfach wehrt. Unverschämtheit, aber noch unverschämter ist es
mir ins Bein zu hacken. Besser könnte es wirklich nicht kommen. Ich sitze in
einem Baum fest, habe einen wirklich genialen Ausblick und ein Nimmervogelbaby
will mich am liebsten im Schlaf anfressen.
Und dann geht plötzlich die Tür an
der anderen Seite meines Verlieses auf, ich sehe das lächelnde, charmante
Gesicht meines Erlösers, der wie immer nur so vor Frohsinn strahlt und
scheinbar darauf wartet, dass ich meinen Arsch in Bewegung setze. Dann fällt
sein Blick auf den Vogel, der statt mir auf ihn zu hopst und krächzt. Er
reagiert irgendwie nicht sonderlich Indianerlike, zückt nicht den Speer oder
macht etwas dergleichen, um die Beute sofort zu erlegen. Aber es lohnt sich
auch nicht Nimmervögel zu töten, an denen ist bis auf die Flügel kein Fleisch
und selbst da bin ich mir nicht sicher. Er wendet sich wieder von dem kleinen
Biest ab, sieht mich an und tritt zur Seite, als ich tatsächlich Anstalten
mache mich in seine Richtung zu bewegen. Und dann werde ich zwischenzeitlich
etwas langsamer, den Vogel beobachtend, der vor mir herhopst und immerzu
krächzt. Ich könnte auch einfach stehen bleiben. Genau das tue ich auch, sehe
den Indianer mit hochgezogenen Augenbrauen an und dann den Vogel.
Eben dieser erwidert meinen Blick
angenervt, also, nicht der Vogel sondern der Indianer, zumindest kommt es mir
vor, als würde er kurz so etwas zeigen. Vielleicht hab ich mir das auch nur
vorgestellt, da seine Mimik so unglaublich bewegt und schnell ist, dass ich
nichts außer absoluter Eintönigkeit darin entdecken kann. Und dann setze ich
mich wieder in Bewegung, da ich mir so viel Besseres vorstellen kann, als an
den Füßen rausgeschleift zu werden. An den Haaren geht ja schlecht, die sind
nicht so lang.
Die Tür wird hinter mir
geschlossen, der Vogel hat sich nicht so richtig heraus getraut, man hört ihn
nur noch gedämpft krächzen und scharren. Aber er ist da ja irgendwie
reingeflogen, als wird er notfalls auch wieder rauskommen. Wir laufen die
gleiche Strecke wieder zurück, kaum dass er mir erneut meine Fesseln angelegt
hat, was ich als total übertrieben und nutzlos empfinde. Abgesehen davon, dass
wir fürs Klettern einfach so viel mehr Zeit brauchen, als es ohne gewesen wäre.
Als würde ich inmitten eines Indianerdorfes versuchen abzuhauen.
Kaum in der großen Hütte zurück
werde ich wieder auf meine Knie verfrachtet und starre erneut die gleichen
Gesichter wie am Vortag an. Und die starren zurück, scheinen so wie ich auf
etwas zu warten. Dieses Mal bleibe ich nicht so lange auf meinen Knien, setze
mich direkt in der Schneidersitz, kaum dass ich losgelassen werde. Indianer
lange Leitung stupst mich mit dem Ende seines Speers an, ich bleibe sitzen. Er
stößt mich härter, ich knurre. Er stößt noch härter und schließlich krabbel ich
erneut auf meine Knie, ihn dabei fragend ansehend, ob es der Prinzessin jetzt
recht sei.
Er sieht
teilnahmslos und ernst zurück, dreht sich um und läuft auf einen der Ausgänge
zu. Ja und ich rutsche wieder in die bequemere Schneidersitzposition. Ein
letzter Blick auf seinen Rücken, der sich gerade umwendet und er mich noch
einmal ansieht. Ertappt blicke ich zurück, während er kehrt macht und wieder,
dieses Mal eindeutig mit dezent verfinsterter Miene, auf mich zuhält. Ich sitze
schneller wieder auf meinen Knien als er mich erreichen kann und lächle dabei
unschuldig.
Bekomme aber
trotzdem noch einen Schlag in den Rücken mit diesem elenden Speer, irgendwann
nehme ich ihm diesen einfach ab. Dieses Mal läuft er hinter mir zu einem
Ausgang, sodass ich ihn nicht weiter sehen kann. Aber ich begehe nicht wieder
den Fehler mich bequem hinzusetzen eher er gegangen ist. Ich lausche auf die
erstaunlich leisen Schritte, sehe auf den Boden vor mir und schließlich ist das
Rascheln von Stoff zu hören und dann völlige Stille. Abgesehen von dem Treiben
draußen im Dorf.
Und dann setze
ich mich wieder bequem hin, will gerade die Anwesenden wieder mustern,
feststellen, ob die wohl die ganze Nacht so dagesessen sind, als wie aus dem
Nichts wieder Schritte zu hören sind. Hastig sehe ich über die Schulter, sehe
ihn dort direkt am Eingang und wie er mich böse ansieht. Verdammt, er ist gar
nicht gegangen. Er lässt den Speer einmal hart in die Handfläche fallen,
während er auf mich zukommt, nur langsam und ich mir ernsthaft überlege, ob ich
jetzt hastig wieder auf die Knie gehe, um dann ohnehin geschlagen zu werden
oder mich erst schlagen lasse und dann auf die Knie gehe. Schwer, wirklich
schwer und er nähert sich unaufhaltsam.
Beinahe ist das
schon komisch und noch komischer, nein, sau lustig, ist, dass ich einfach auf
meinem Hintern sitzen bleibe, wie ein trotziges Kind. Ich sehe ihm entgegen,
höre, seine schweren Schritte und sehe auch, dass er mittlerweile doch etwas
wütend ist. Ich habe keine Lust darauf weitere Stunden hier zu sitzen, bis es
wieder dunkel wird und mich anschweigen zu lassen, um dann erneut ohne Essen in
diese Zelle gesteckt zu werden. Irgendwie sehe ich es ja kommen, dass es genau
so endet. Und dann, am nächsten Tag, was passiert dann? Wieder das Gleiche?
Ich habe keine
Lust die letzte Zeit, die ich auf diesem eingefrorenen Planeten und verstoßen
von meinen eigenen Leuten verbringen werde, darauf warte, dass sich ein paar
Indianer einig werden, wie genau sie mich töten. Er steht neben mir, holt aus
und schlägt mir mit einiger Kraft mehr als zuvor das Ende des Speers in den
Rücken. Wieder trifft er die gleiche Stelle, so wie schon am Tag zuvor und
wahrscheinlich tut er das auch bewusst.
Ich bleibe
sitzen, spute mich nicht, verziehe nicht einmal wirklich eine Miene. Er sieht
mich an, holt noch einmal aus und entscheidet sich dann doch um. Stattdessen
greift er mir unter die Achseln und versucht mich so wieder richtig
hinzusetzen. Ich hänge einfach da, mache nicht weiter mit und es resultiert
darin, dass er mich schließlich grob stößt, mit beiden Händen packt und weiter
zerrt. Ich kippe dabei beinahe um, weigere mich aber wieder auf die Knie zu
gehen. Das ist doch einfach lächerlich, diese ganze Machtdemonstrationsscheiße.
Er schlägt
wieder mit dem Speerende zu, erst in den Rücken, dann die Schulter, sogar gegen
den Kopf. Ich bleibe sitzen, beiße die Zähne zusammen und beobachte die
ausdruckslosen Mienen um mich herum. Alle wirken unbeteiligt, bis auf zwei
Personen, zu dumm, dass ich eine davon bin. Mittlerweile sieht man bei Indianer
Regungslos tatsächliche, echte Wut. Er verzieht den Mund, kneift die Augen
zusammen und schlägt mir nun hart gegen die linke Brust. Eben dies lässt mich
heftiger zusammen zucken, als er selbst wohl angenommen hat. Er zögert, ich
hebe die Hände vor meine malträtierte Brust und verziehe vor Schmerz das
Gesicht.
~
„Ich glaube sie
hat so etwas wie einen Anfall“, höre ich es gedämpft an meinem Ohr und schaffe
es doch nicht die Augen zu öffnen. Sie sind so unglaublich schwer, meine Lider
scheinen Tonnen zu wiegen und die Hitze, diese Hitze scheint mich zu töten. Es
fühlt sich ein bisschen wie ein sehr hohes Fieber an, lullt mich ein und doch,
der Kopfschmerz wird immer deutlicher, je wacher ich werde.
Stimmen um mich
herum, sie sprechen in dieser Sprache, die ich bereits zuvor gehört habe. Als
wir durch das Dorf gelaufen sind. Sind wir durch das Dorf gelaufen? Bin ich…
bin ich durch ein Dorf gelaufen? Die Farben der Hütte und die Kriegsbemalungen,
dieses Volk, wie sie trotz des scheinbar nahenden Endes weiter leben, daran
festhalten, dass alles gut wird.
Und dann sind
da andere Erinnerungen. Wie ich aus dem Auto ausgestiegen bin, begrüßt wurde,
zwar mit Abstand und Zurückhaltung, aber trotzdem höflich. Wie ich beim Essen
geholfen und mit ihnen gegessen habe, um dann erschöpft in dieses Bett zu
fallen. Ich nehme zumindest an, dass ich mich immer noch in diesem befinde.
Aber welche
Erinnerung ist nun wahr und welche völliger Blödsinn. Ich bin mir sicher, dass
ich noch vor einem Tag genau sagen konnte, was Real und das Traum ist. Aber ich
weiß es nicht mehr, spüre nur plötzlich etwas Kühles auf meiner Stirn und zucke
zusammen. Es ist unangenehm und fühlt sich im Vergleich zu meiner brennenden
Haut eiskalt an.
Dieser kurze
Schock reicht um mich endgültig aus meinem in Watte gepackten Zustand zu reißen
und ich versuche die schweren, verklebten Lider zu öffnen. Um mich herum
befinden sich zwei oder drei Personen, das kann ich nicht genau bestimmen, da
mir die Augen sofort wieder zufallen, kaum dass ich sie geöffnet habe. Träume
ich oder bin ich wach?
Alle kommen sie
mir bekannt vor, jedes Gesicht davon habe ich schon gesehen, stelle ich fest,
als ich es endlich schaffe mich etwas länger umzusehen. Es ist der alte
Häuptling, dann die Frau und mein Wächter. Sie in dieser legeren Kleidung zu
sehen, Jeans und braunem Pullover, dicken Wollsachen, die wahrscheinlich selbst
gestrickt sind, scheint so falsch.
„Alles gut, du
hast hohes Fieber“, wird meine Hand genommen, mit der ich mir eben dieses kalte
Ding von der Stirn ziehen wollte und unwirsch aufknurre. „Alles gut, Liebes“,
spricht sie weiter mit mir und streichelt beruhigend über meinen Handrücken.
Kurz sehe ich in ihre grünen Augen, welche solch eine intensive, helle Farbe
haben, dass sie zu leuchten scheinen.
„Das kommt von
der Kälte“, ihre Stimme wird immer und immer leiser, mein Blickfeld auch immer
kleiner und es fällt mir schwer, mich noch zu konzentriere, scharf zu sehen.
Alles verschwimmt und das leise, amüsierte und höhnische Lachen kann ich nicht
mehr zuordnen, bin mir nicht sicher, ob ich es wirklich ausstoße oder mir das
nur vorstelle. Natürlich kommt das von der Kälte, zumindest hoffen sie das.
Das zweite Mal
als ich hochschrecke ist niemand bei mir, ich bin völlig allein und finde mich
in verschwitzten, klebenden Sachen wieder, unter Schichten von Decken gepackt.
Mir ist warm, aber nicht mehr so heiß und ich fühle mich ausgelaugt. Es
Dämmert, aber dank der dunklen Wolkendecke und dem starken Schneefall bin ich
mir nicht sicher, ob es morgens oder abends ist. Ohne darauf zu warten ob es
nun heller oder dunkler wird setze ich mich langsam auf und muss mich dabei
abstützen, als sei ich plötzlich um 50 Jahre gealtert.
Mein Mund ist
trocken, die Kehle tut mal wieder weh und doch habe ich mich mittlerweile an
dieses Gefühl gewöhnt. Es kommt mir so vor, als sei ich seit Tagen unterwegs
und hätte keinen wirklichen Schlaf gehabt. Immerzu bin ich durch die Wildnis
gestolpert, verfolgt worden, von Panik und Adrenalin geschüttelt und kann nicht
mehr zuordnen, was ich geträumt und was ich erlebt habe. Mein Körper zumindest
fühlt sich an, als hätte ich alles erlebt.
Langsam
schwinge ich die Füße über die Bettkante und muss erst einmal sitzen bleiben,
damit mein Kreislauf etwas in Schwung kommt und ich nicht beim Aufstehen
bereits aus den Latschen kippte. Mein Blick fällt auf die kalten Wickel, welche
um meine Füße geschlungen sind und statt mich weiter mit dem Schwindelgefühl zu
beschäftigen, fange ich langsam an diese abzumachen.
Irritiert halte
ich inne, als ich an meinem Oberschenkel einen Verband vorfinde und sogar ein
bisschen Blut hindurchschimmern sehe, womit sich dieser etwas vollgesogen hat.
Langsam ziehe ich die Tapestreifen ab, rolle ihn von meinem Bein und finde eine
von Wundschorf überzogene Wunde vor. Sie ist nicht besonders groß und als ich
realisiere, woher oder eher wer mir diese zugefügt hat, erstarre ich. Wie vom
Blitz getroffen japse ich, kann kaum atmen und mein ganzer Körper scheint zu
beben. Die Erinnerung, welche mein Hirn dieser offenen Stelle zuordnen will,
kann in keinster Weise mit meinem Weltbild übereinstimmen. Und doch, ich weiß
sogar noch, wie sehr es wehgetan hat. Dieser dumme Nimmervogel, welcher in mein
Verließ geschwirrt ist und immer auf die gleiche Stelle gehackt hat.
Noch während
ich mit den Fingern über das getrocknete Blut und die darüber geschmierte Creme
fahre, unfähig zu glauben, was mein Verstand mit einbläuen will, entscheidet
mein Magen, mir einfach die Entscheidung abzunehmen. Ein Würgen, ich stoße auf,
halte mir die Hand vor den Mund, stoße wieder auf und schaffe es gerade so,
mich nicht zu übergeben.
Seufzend sinke
ich zurück auf die Matratze, die Arme über dem Kopf ausgestreckt und reibe mir
über die schmerzende Stirn, diese massierend. Das alles kann nicht wahr sein
und noch weniger kann es wahr sein, dass ich mich an diese absurden Träume
erinnere, aber nicht die Realität. Es kann ja schwerlich real sein, dass ich
von einem Babyexemplar eines vogelartigen Raubtiers, bestehend aus Skelett und
bunten Federn, attackiert wurde. Genau so wenig ist dieses fantastisch
konstruierte Dorf war, welches scheinbar der Schwerkraft trotzt.
Ich sehe hinauf
zur Decke, spüre die Kälte auf meiner Haut und nach einigen Momenten, in denen
ich mich fasse und die Realität ordne, schaffe ich es aufzustehen. Die ersten
Schritte sind seltsam tapsend, beinahe wie ein Baby, welches ungeschickt vor
sich hin strauchelt oder eben ein Betrunkener. Aber der Vergleich mit dem Baby
ist einfach netter.
Ich fische
meine Sachen von dem rustikalen und völlig schnörkellosen Stuhl, ziehe mir das
verschwitzte, klebende Shirt über den Kopf und steige in meine tatsächlich gut
riechenden und scheinbar frisch gewaschenen Klamotten. Wie lang habe ich wohl geschlafen?
Die Sachen
fühlen sich einerseits vertraut an, aber nicht mehr abgetragen und bereits
während ich sie überziehe, scheint sich meine Verfassung zu bessern. Was ein
paar saubere Klamotten immer bewirken können, das vergisst man gerne einmal.
Das
Sockenanziehen ist eine Herausforderung und da ich mir meinen Verband abgepuhlt
habe, komme ich auch nicht in meine enge Jeans, will auch den Wundschorf nicht
direkt wieder abschürfen. Somit wird der Pullover, welchen ich am Leib trage
und der ohnehin über meinen Hinter reicht, noch etwas mehr nach unten gezogen
und ich verlasse beinahe lautlos das Zimmer.
Es ist ruhig,
ein Gang vor mir, welcher im Dunkeln liegt und ich mittlerweile feststelle,
dass es wohl Abend sein muss. Vier Türen gehen ab, welche ich direkt ausmachen
kann und alle sind geschlossen. Dann noch meine eigene und ein weiterer
Durchgang ganz am Ende des Gangs, durch welchen Licht scheint. Von dort sind
auch Stimmen zu hören, Schritte, Lachen und das Kläppern und Werkeln von
Geschirr und Töpfen. Zischen, Wasserrauschen und Klirren. Unter allem dudelt
leise ein Radio, rauscht immer mal wieder und der Moderator kündigt gerade die
besten Weihnachtslieder der 80er an, als ich mich in den Wohnbereich schiebe.
Etwas fehl am Platz bleibe ich stehen, beobachte das Treiben um mich herum und
werde erst nicht bemerkt. Es ist der Jüngste, welcher auf mich aufmerksam wird,
grinst und dann seine Tante anstößt.
Ich finde es
eigenartig, dass er überhaupt eine Miene verzieht, sehe ihn immer noch vor mir,
wie er mit starrem, hartem Gesicht da sitzt und darauf wartet, dass etwas
passiert. Das Bild ist so deutlich, als ob ich direkt hinein fallen würde. Ich
blinzle, werde von einer Stimme zurück in die Realität geholt, die meinen Namen
sagt. „SJ, wie geht es dir?“, fragt sie besorgt und ich frage mich, woher ich
weiß, dass sie die Tante des Jungen ist, woher ich weiß, dass sie auch meinen
stillen Aufpasser aufgenommen hat. Ich kann mich nicht daran erinnern mit
diesen Leuten viel gesprochen zu haben, aber da sie meinen Namen kennen und
auch sonst recht entspannt mit mir umgehen, muss es wohl so gewesen sein. Auch
der Häuptling schenkt mir ein Lächeln, streicht sich über den dunklen Pullover
mit dem wirklich hässlichen Weihnachtsmuster darauf und wirkt erfreut mich zu
sehen. Dann fällt mein Blick auf den alten Greis und all meine Nackenhaare
stellen sich auf. Er sieht genau gleich aus, selbst seine Kleidung wirkt ähnlich
und seine Augen, er sieht mich an, als ob er etwas wüsste. Seine Begrüßung ist
ein knappes Nicken, es ist mehr, als ich von der Person bekomme, die mich
überhaupt hierher gebracht hat.
„Oh, du suchst
wahrscheinlich das Bad“, steht nun plötzlich die Frau vor mir und ich finde es
befremdlich, dass ich mich an ihr Verwandtschaftsverhältnis erinnern kann,
nicht aber an ihren Namen. Er will mir einfach nicht einfallen, keiner von
ihnen. Verunsichert sehe ich sie an, nicke dann, obwohl ich selbst gar nicht
auf die Idee gekommen bin. Wahrscheinlich würde eine Dusche ganz gut tun. „Wir
sind alle froh, dass es dir wieder besser geht“, werde ich noch einmal
angesprochen, bevor ich mit ihr zusammen den Raum verlassen kann. Es ist der
Häuptling und das aufmunternde Schmunzeln wirkt echt, während der Greis in
seinen weißen, dünnen Bart lacht. Er verschluckt sich, fängt an zu husten und
sofort wird ihm umsichtig auf den Rücken geklopft.
Dieses Lachen
irritiert mich, scheint in dem dunklen Gang nachzuhallen, jeden meiner Schritte
zu begleiten. Er hat erst angefangen zu lachen, als festgestellt wurde, dass es
mir wieder besser geht. Aber irgendwie fühle ich mich nicht so, ich fühle mich
immer mehr entrückt, immer weiter entfernt, von dem, was man einen psychisch
guten Zustand nennen würde. Dieses Lachen ist irgendwie gruselig, alle Härchen
an meinem Körper stellen sich auf und ich kann nur schwer ein Schütteln
unterdrücken, ein Schaudern.
„Er ist schon
etwas senil und steckt oft in den eigenen Erinnerungen“, erklärt sie mir und
scheint geahnt zu haben, was ich denke. Ich sehe sie einfach nur an,
registriere, dass sie scheinbar auf eine Erwiderung oder etwas dergleichen
wartet: „Ja… ja.“ Sehr aufschlussreiche, ich weiß, aber mehr fällt mir dazu
auch nicht ein. Ihr Lächeln wird nicht weniger, während sie die Türe neben der
sie steht öffnet und das Licht im Bad anschaltet.
„Handtücher
findest du im Schrank, bediene dich ruhig an den Seifen und wir müssten noch
eine eingepackte Zahnbürste in dem Schränkchen haben“, zeigt sie mir alles,
während ich an ihr vorbei eintrete. Ich nicke dankbar und folge ihrem zeigenden
Finger mit den Augen. Wieder das Lachen, ich zucke beinahe zusammen und
versuche doch völlig ruhig zu bleiben, gelassen. Er ist nur senil, mehr ist das
nicht und ich bin müde und ausgelaugt.
„Ich bringe dir
ein paar andere Sachen zum Schlafen“, lächelt sie und auch dieses Mal kann ich
nur dankbar nicken. „I… Ich… ähm, wie lange habe ich denn geschlafen?“, frage
ich, bevor sie wieder geht und kurz zieht sie die Augenbrauen nach oben. Sie
überlegt scheinbar und nickt dann, während sie spricht: „Zwei Tage waren es auf
jeden Fall. Du hast den Schlaf scheinbar dringend gebraucht und deine Zehen
sehen nicht sehr gut aus. Du solltest besser auf die Acht geben, vor allem um
die Jahreszeit.“ Irgendwie fühle ich mich schlecht, aber sie scheint mir
deswegen keine Vorwürfe zu machen, sondern dreht sich nur um und verschwindet
aus dem Türrahmen.
Nur wenige
Augenblicke später, in denen ich tatsächlich die noch in ein Plastiktütchen
gepackte Zahnbürste in dem Spiegelschrank entdeckt habe, kommt sie mit einer
weiten, bequem aussehenden Jogginghose und einem übergroßen Pullover wieder,
den ich niemals ganz ausfüllen werde. „Es gibt in einer halben Stunde
Abendessen und ich bestehe darauf, dass du mit uns isst. Kein Wunder dass man
dich bei dem Gewicht für einen Jungen hält. Das war ja für Ahanu ein kleiner
Schock, als er realisiert hat, dass du eine Frau bist“, zwinkert sie amüsiert
und scheint sich scheinbar an etwas zu erinnern, das ich nicht weiß. Sie
lächelt versonnen, macht dann die Tür hinter sich zu und ich lausche noch kurz
auf ihre sich entfernenden Schritte. Dann starre ich mich im Spiegel an und
finde, dass ich wirklich schäbig aussehe. Meine Wangen sind mittlerweile
eingefallen, die Haut ist gräulich und die Augenringe wirken geschwollen sowie
beinahe schwarz, was mich nur noch kränker aussehen lässt. Alles in allem habe
ich wirklich einige Kilos abgenommen und kaum dass ich mir den Pullover über
den Kopf ziehe kann ich meine Rippen betrachten. Ich war schon immer dünn, aber
so dürr dann doch nie und es macht mir selbst Angst. Dazu die ganzen blauen
Flecken, mein Rücken schmerz ziemlich und als ich mich umdrehe, einen Blick
über die Schulter im Spiegel auf diesen erhasche, da sehe ich auch den großen,
blauen Fleck. Genau an der Stelle wo er mich geschlagen hat.
Ich schließe die
Augen, versuche einfach die Taktik, die sich am besten anfühlt: aus den Augen,
aus dem Sinn. Das Wasserrauschen hat etwas Beruhigendes an sich und tut meinem
geschundenen Körper gut. Seufzend bleibe ich eine Weile darunter stehen,
genieße die Wärme, wie es meine Muskeln langsam entspannt und versuche einfach
über nichts nachzudenken. Nicht diese komischen Dinge, welche sich
überschneiden mit meinen Träumen, nicht mit den langen Blackouts, die ich ja
offensichtlich habe und mein Versand mit irrsinnigen Wahnvorstellungen füllt,
nicht über meinen Vater oder die Frage, was genau ich hier tue und wohin genau
ich gehe. Nein.
Einfach nur
leere und dann doch die Neugier, wann genau Ahanu… so hat sie ihn genannt und
ich nehme einfach einmal an, dass es sich dabei um den Kerl handelt, der mich eingesammelt
hat, herausgefunden hat, dass ich eine Frau bin. Nun, sie haben mich ja
umgezogen und… und ganz plötzlich wird mir doch etwas zu heiß unter dem
Wasserstrahl. Oh nein.
Frisch geduscht
sehe ich immer noch schäbig aus, aber fühle mich zumindest wieder annähernd wie
ein Mensch, so ein bisschen wenigstens. Das Schamgefühl, dass ich sicherlich
brühwarm in der nächsten halben Stunde erfahren werde, wieso die Männlichkeit
geschockt von der Entdeckung der Weiblichkeit war, bringt mich beinahe dazu,
einfach zurück in mein Zimmer zu schleichen und mich im Bett zu verkriechen.
Irgendwie traue ich es diesen Leuten zu, dass sie solche Themen ganz offen
ansprechen.
Ich überwinde
mich doch, rubbel mir die Haare trocken und schlurfe dann auf den dicken
Wollsocken entlang zurück in die Wohnstube. Der Duft von frisch gekochtem Essen
steigt mir sofort in die Nase, es riecht nach gebratenem Fleisch, Gemüse,
dicker Soße und gebackenem Brot. Mein Magen knurrt laut, gibt solche Laute von
sich, dass ich beinahe Wörter hinein interpretieren kann. Vielleicht reißt auch
bald mein Bauchnabel auf und wird zu einem weiteren Mund, wodurch mein Körper
mir seine Bedürfnisse mitteilen kann.
Es wird wieder
kurz still, als ich herein komme, aber es ist nicht unangenehm. Ich werde auf
einen Stuhl an dem dunklen und rustikalen Tisch gedrückt. Alles hier wirkt
heimelig, ist aus dunklem Holz und die Küche, sowie das angrenzende Wohnzimmer,
sind sehr alt. Es ist nicht heruntergekommen, sondern einfach nur gelebt.
Ausgeblichene Sofas, abgewetzt an manchen Stellen, dann der doch für so viele
Leute etwas kleine Tisch und die alles andere als luxuriöse Küche. Es genügt
und solche Probleme wie, dass der neue Gasherd ja so gar nicht zu dem modernen
Kühlschrank passt, obwohl man ohnehin nicht kochen kann, existieren nicht. So
unauffällig wie möglich sitze ich mit dabei, nehme dankend die Schüssel
entgegen, welche mir gereicht werden und schöpfe mir selbst nur eine kleine
Menge, um dann von jemand anderem noch einmal einen großen Löffel zusätzlich
auf den Teller gehäuft zu bekommen. Es herrscht eine ansteckend fröhliche
Stimmung, der ich mich nicht lange entziehen kann und es doch bewundernswert
finde, dass Ahanu völlig ernst bleibt. Eben dieser ignoriert mich vehement,
geht aber auch auf die anderen Anwesenden nicht wirklich ein und enthält sich
größten Teils.
„Wir dachten ja
erst du wärst tot, als du am nächsten Tag nicht mehr aufgestanden bist“, fängt
die Frau an und lacht dabei. „Nein, du hast das gesagt. Ich meinte, dass er,
also sie, einfach bereits aufgebrochen ist. Als du dann aber so bleich und
starr im Bett lagst“, wirft ihr Mann grinsend ein. „Und dann hast du plötzlich
dieses Fieber bekommen. Du warst ja schon am Abend zuvor so still und das war
vielleicht ein Zeichen dafür“, vervollständigen sie sich gegenseitig und kommen
schließlich zu dem Punkt, worüber sich alle amüsieren.
„Ja, und dann
sollte Ahanu deine verschwitzten Sachen wechseln und etwas nach dir sehen. Der
arme Kerl“, eben dieser arme Kerl enthält sich weiter großzügig und widmet sich
doch etwas zu interessiert seinen Erbsen. Er starrt diese quasi tot und
versucht sie mit der Gabel zu erstechen. „Plötzlich stand er wieder bei mir in
der Küche und meinte, dass ich das doch besser machen soll. Mehr wollte er dazu
nicht sagen und ist ganz rot geworden“, lacht seine Tante weiter und alle
anderen, selbst der Greis, auch wenn ich annehmen, dass er nicht ganz versteht
um was es geht, amüsieren sich köstlich. Ich merke, dass mir das doch etwas
unangenehm ist und Ahanu selbst starrt weiter die Erbsen an.
„Aber man sieht
es dir auch wirklich nicht so richtig an. Ich war mir da Anfangs auch nicht
sicher“, wird mir wieder einmal mein unglaublich ansprechendes Äußeres vor
Augen geführt und die Situation damit aber entschärft. Nicht dass plötzlich
jemand aufspringt und wutentbrannt aus dem Zimmer stürmt, mit wehendem Haar und
dann so schwere Musik kommt. Dam Dam Daaaam. Oder irgendwo singt plötzlich
jemand, ein Huhn oder der Mond. Moment, falsche Geschichte.
Das Essen
schmeckt wirklich gut, darüber kann ich nicht meckern, es ist viel mehr die
Menge, welche sie versuchen in mich hinein zu komplimentieren. Kaum dass ich
eine Sache aufgegessen habe, wird genau das noch einmal nachgeschöpft. Und
mittlerweile kann ich keinen Rotkohl mehr sehen, wirklich nicht. Mein Bauch
scheint platzen zu wollen, ich bin froh um die weite Hose und lehne weit auf
dem Stuhl zurück.
Schließlich
gibt es auch noch Nachtisch, einen Nusskuchen und schon beim bloßen Anblick
wird mir übel. Irgendwie schaffe ich es ein bisschen zu probieren, lasse das Umkümmern
ohne Gegenwehr oder Meckern über mich ergehen und stehe schließlich auf, um nur
wieder auf den Stuhl gedrückt zu werden, statt irgendwie beim Abwasch zu
helfen. Er sagt nicht einmal etwas, hat seine Hand nur auf meiner Schulter
ruhen und sieht mich kurz mit diesen tiefschwarzen Augen an. Die einzige
Kommunikation zwischen uns an diesem Abend.
Ich sehe ihnen
noch eine Weile beim Aufräumen zu, schließlich sitzen einige bereits auf dem
Sofa, der Fernseher läuft mit irgendeinem Footballspiel und auch die Küche ist
mittlerweile aufgeräumt. Schwerfällig stehe ich auf, merke, wie die bleierne
Müdigkeit mich immer mehr übermannt und verabschiede mich gähnend und mehr als
gesättigt. „Danke, das Essen war wirklich sehr lecker. Ich werde dann morgen…“,
beginne ich, druckse etwas herum und fühle mich, als würde ich mich ihnen
aufdrängen. „Du kannst mir morgen gerne etwas helfen, während die Jungs draußen
bei den Tieren sind“, werde ich einfach unterbrochen und mein scheinbarer
Einwurf, dass ich eigentlich weiterziehen möchte, einfach ignoriert.
Unangenehm
berührt kaue ich mir auf der Unterlippe herum, merke bereits, dass ich meines
Erachtens nach bereits viel zu viel Zeit hier verbracht habe und fühle mich
doch ungemein wohl hier. „Ich möchte mich euch nicht…“, werfe ich ein und auch
dieses Argument wird einfach weggeschlagen, zu Boden gepfeffert und darf sich
heulend in einem der Astlöcher im Boden verkriechen.
„Ach, das tust
du doch nicht. Es ist schön andere Gesichter einmal um sich zu haben und die
Männer helfen immer nicht so gerne im Haus, obwohl ich dabei jede Hilfe
brauchen kann.“, sagt sie und ich nicke kurz, fühle mich aber immer noch
unwohl. „Außerdem haben wir ohnehin damit gerechnet, dass du bleibst, bis der
Sturm sich verzogen hat. Das kann um diese Jahreszeit mehrere Tage dauern,
manchmal auch eine Woche und es wäre viel zu gefährlich, jetzt zu Fuß weiter zu
ziehen“, stellt sie endgültig fest und damit ist für sie das Thema auch schon
gegessen.
Ich schlucke,
stehe noch kurz etwas fehlplatziert hinter meinem Stuhl herum und löse mich
dann, als ich erneut indirekt angesprochen werde: „Ach, dein Bett sollten wir
noch überziehen. Ahanu, wärst du bitte so lieb und hilfst SJ, sie sollte sich
noch etwas schonen.“
Und damit
werden wir beide in den Gang geschickt und auf uns allein gestellt. Ich hätte
mir da tatsächlich lieber einen anderen Weggefährten ausgesucht, einen
gesprächigeren, vielleicht auch jemanden, der mich nicht versehentlich und
fälschlicherweise fürs falsche Geschlecht haltend, halbnackt gesehen hat.